Hoher Anspruch – harte Realität
Pädagogische Fachkräfte leisten täglich etwas, das der Arbeit von Therapeutinnen sehr ähnelt: Sie begleiten Kinder emotional, bieten Halt, Orientierung und Beziehung. Im Gegensatz zum therapeutischen Einzelsetting – in dem ein einzelner Klient mit klarer Motivation und Freiwilligkeit mit einem Therapeuten arbeitet – treffen Pädagoginnen auf eine ganze Gruppe, deren Teilnehmende oft nicht freiwillig dabei sind, Widerstand zeigen und ihren eigenen, teils trotzigen Willen durchsetzen möchten. (Sowohl bei Kitakindern als auch bei älteren Kindern und Jugendlichen)
Zeitdruck, Lautstärke, Personalmangel und komplexe Gruppensituationen sind Alltag. Unter Stress greifen wir Menschen jedoch auf alte Muster zurück – nicht auf Fachwissen. Genau hier entsteht der Bedarf für Selbsterfahrung.
Wie kommt es, dass wir auf alte Muster zurückgreifen?
Unter hohem Zeitdruck, Lautstärke oder in emotional komplexen Konfliktsituationen (z.B. wenn ein Kind provoziert oder hysterisch weint), schaltet das menschliche Gehirn von der reflektierenden, rationalen Ebene auf den Überlebensmodus um.
Der Stress löst eine Reaktion in der Amygdala aus (dem emotionalen Zentrum des Gehirns), die oft schneller ist als der präfrontale Kortex (das Zentrum für Logik und Planung) reagieren kann. Dies wird manchmal als „Amygdala-Entführung“ bezeichnet.
Dadurch wird die Fähigkeit zur differenzierten Wahrnehmung und zum professionellen, angemessenen Handeln stark reduziert. Der Mensch greift in diesem Stresszustand nicht auf Fachwissen oder seine als richtig und wichtig erworbenen pädagogischen Leitlinien und Überzeugungen zurück, sondern auf die tief verankerten, automatisierten Schemata der frühen Kindheit. DieseMuster sind oft Überlebensstrategien, die tief in unserem emotionalen Gedächtnis gespeichert sind. Sie wurden in der Kindheit entwickelt, um emotionale Notlagen zu bewältigen und die Bindung zu unseren primären Bezugspersonen, den Eltern, zu sichern. Beispiele sind: Rückzug, Angriff, Überanpassung (Pleasing/Fawning) oder Starre. Da diese Muster automatisiert sind, benötigen sie in Stressmomenten keine bewusste Denk-Energie. Sie sind die „Standardeinstellung“ unseres Verhaltens, wenn der präfrontale Kortex überlastet ist.
Unsere Überzeugungen und Leitlinien kann man sich dabei vorstellen wie eine dünne Schneedecke, die auf einem Waldweg über tiefen eingefahrenen Furchen liegt. Werden wir durch Stress „aus der Bahn gebracht“, landen wir schnell in den tiefen eingefahrenen Furchen. Das fühlt sich dann sehr unangenehm und unprofessionell an. Wir verlieren dann oft unsere Neutralität und handeln aus der persönlich verstrickten Person heraus. Wir reagieren mit Gefühlen, die aus unserer eigenen Vergangenheit stammen. Dadurch kommt es natürlich schnell zu Dramen, Missverständnissen und einer destabilisierenden und entwicklungshemmenden Umgebung für die Kinder, die wir begleiten. Gleichzeitig entsteht eine massive innere Spannung zwischen dem professionellen Anspruch und der automatisierten Reaktion. Diese Spannung und das Ringen gegen die eigenen Muster verbraucht enorme kognitive und emotionale Ressourcen und macht die Situation deshalb zu einem enorm kraftzehrenden Faktor für uns als Pädagogen. Die Selbsterfahrung dient daher als Klärungsprozess, um diese Muster zu erkennen und die professionelle Haltung bewusst zu stärken.
Selbsterfahrung als fundamentaler Bestandteil der Professionalität
Viele Strömungen und wichtige Vertreter der Pädagogik und innerhalb der Psychologie empfehlen die Selbsterfahrung als fundamental wichtigen Bestandteil der Professionalität.
Die Notwendigkeit zur Selbsterfahrung lässt sich über verschiedene Argumentationsstränge erklären, auf die ich im Folgenden genauer eingehen möchte. Im ersten Argumentationsstrang geht es um die Klärung der innerlich wirkenden Mechanismen der Fachkräfte.
Nach Prof. Dr. Gerhard Suess ist die Selbsterfahrung ein sehr wichtiger Bestandteil in allen helfenden und pädagogischen Berufen. Selbsterfahrung unterstützt Fachkräfte dabei, unbewusste Dynamiken im pädagogischen Handeln wie Übertragungen (wenn das Gegenüber alte Beziehungsmuster auf die Fachkraft projiziert) und Gegenübertragungen (die unbewusste emotionale Reaktion der Fachkraft darauf) frühzeitig zu erkennen.
Wer diese Dynamik in sich selbst erfahren und reflektieren kann, wird natürlich weniger in Beziehungsdramen mit Kindern verstrickt.
Auch für Prof. Dr. Schlee, einem bedeutenden zeitgenössischen Vertreter der psychodynamisch orientierten Pädagogik, ist die Selbsterfahrung ein zentrales Element der Professionalität.
Schlee argumentiert sinngemäß, dass die professionelle Haltung, die für eine tragfähige und entwicklungsfördernde Beziehung notwendig ist, nicht intuitiv oder nur durch Fachwissen erworben werden kann. Selbsterfahrung ist der notwendige und systematische Prozess, der diese Klärung ermöglicht und dadurch die Haltung von persönlichen Verzerrungen und eigenen unbewussten Reaktionen befreit.
Dadurch entsteht eine wichtiger Schlüssel: die Fähigkeit zur Differenzierung zwischen der eigenen Person und der professionellen Rolle.
Insgesamt läßt sich festellen, dass die Empfehlung, Selbsterfahrung zu absolvieren, in der Pädagogik tief verwurzelt ist. Siegfried Bernfeld, einer der wichtigsten Begründer der Psychoanalytischen Pädagogik, hat bereits 1925 dargelegt, dass die Selbsterfahrung für Pädagogen ein Schlüssel für die Erziehung ist. Er sah darin die Grundlage der Professionalität, um das eigene Handeln, die unbewussten Muster und die biografischen Prägungen für die Arbeit mit Kindern nutzbar zu machen.
Die Selbsterfahrung ist ein tiefgreifender und spannender Prozess, der zu wesentlichen Erkenntnissen, wundervollen Einsichten und dem großen Geschenk der nachhaltigen Entfaltung des persönlichen Potenzials führt.
Beziehungsarbeit ist der Kern pädagogischer Arbeit
Im zweiten Argumentationsstrang wird die Notwendigkeit zur Selbsterfahrung erklärbar über die Anforderungen an eine professionelle Beziehungsgestaltung. Auf verschiedene Aspekte dieser Beziehungsgestaltung möchte ich im Folgenden eingehen.
Viele Pädagogen und Psychologen der letzten 100 Jahre betonen übereinstimmend, dass nicht die angewandte Methode über den Erfolg der Erziehung entscheidet, sondern die Persönlichkeit und die psychische Klarheit des Pädagogen.
Eine der frühesten Erwähnungen dieser Ansicht findet sich bereits 1925 bei Siegfried Bernfeld.
Eine etwas aktuellere Erwähnung dieses Zusammenhangs ist zu finden bei Prof. Dr. Jörg Schlee in diversen Publikationen um das Jahr 2008 zur Lehrerpersönlichkeit. Nach ihm zeichnet sich eine pädagogische Persönlichkeit, die erfolgreiche Erziehung bewirken kann, durch folgende Haltungen und folgende Aspekte in der Beziehungsgestaltung aus:
- Die Fähigkeit, das Kind in seinen Bedürfnissen und seinem Erleben ernst zu nehmen.
- Neutral sein zu können und nicht aus eigenen unbewussten Konflikten heraus zu handeln.
- Die Fähigkeit, Widersprüche (z.B. ein Kind ist gleichzeitig liebenswert und aggressiv) und unlösbare Probleme auszuhalten, ohne vorschnell zu urteilen oder sich emotional zurückzuziehen.
Doch wie lassen sich solche Haltungen und die Beziehungsgestaltung umsetzen?
Nach Schlee benötigt die professionelle Haltung neben einem fundierten intellektuellen Rahmen vor allem die Klärung der Persönlichkeit. Er betrachtet die professionelle Haltung als ein dynamisches Ergebnis der fortlaufenden Selbsterfahrung, der Supervision und der Fallarbeit, die in den Theoriekontext eingebettet sein sollten.
Diese Sichtweise wird durch die sehr aktuellen Forschungsergebnisse von Barth und Wiehl (2025) bestätigt, die einen sehr interessanten Sammelband mit Texten über die professionelle pädagogische Haltung veröffentlich haben. Auch nach ihnen wird der Kern der professionellen Haltung hauptsächlich durch Selbstentwicklung erworben. Obwohl Barth und Wiehl Fachwissen und didaktische Fähigkeiten als notwendige Grundvoraussetzungen ansehen, erachten sie die Selbstentwicklung und Selbsterfahrung als den noch wichtigeren, entscheidenden Faktor für die professionelle Haltung.
Durch das daraus entstehende authentische Handeln der Pädagogen, das sie zu einem glaubwürdigen Vorbild macht, und durch das Gestalten von tragfähigen Beziehungen können Kinder positive Werte verinnerlichen.
Evidenzbasierte Erfolgsfaktoren. Wie Selbsterfahrung die Wirksamkeit vervielfacht
In einem weiteren Argumentationsstrang finden wir eine Art empirischen Beweis durch die sehr aktuelle, evidenzbasierte Forschung von Prof. Dr. John Hattie.
Hattie, ein Erziehungswissenschaftler und Bildungsforscher hat im Jahre 2009 in seinem Werk visible learning (eins der einflussreichsten Bücher der Pädagogik weltweit und absoluter Meilenstein der evidenzbasierten Pädagogik) ca. 1000 Metastudien untersucht. In diese Metastudien flossen Ergebnisse von Studien mit insg. mehreren Millionen Kindern ein. Das Ziel war es, die stärksten Wirkfaktoren mit einem positiven Effekt auf die Entwicklung und das Lernen von Kindern zu identifizieren. Zwei der drei allerstärksten Faktoren, die er in seiner evidenzbasierten Forschung herauskristallisierte, sind zum einen das Selbstvertrauen eines Pädagogen und zum anderen die kollektive Wirksamkeitserfahrung des Teams (die Überzeugung des Teams, dass es gemeinsam einen Lern -und Entwicklungserfolg für die begleiteten Kinder erreichen kann).
Und genau hier kommen die Arbeiten von Albert Bandura ins Spiel, der in den 70er- und 80er-Jahren die Theorie der Selbstwirksamkeit entwickelte und folgende Zusammenhänge fundiert erklärte:
Bandura und Synergieeffekte
Durch seine umfassende und fundierte Forschung konnte Bandura zeigen, dass die Selbsterfahrung ein sehr entscheidender Mechanismus ist, der innere Konflikte klärt und Zweifel an der eigenen Kompetenz aus dem Weg räumen kann. Sie führt zu einer gefestigten Haltung und einer Selbstwirksamkeits-Überzeugung, wodurch die Fachkraft das Vertrauen gewinnt, in stressigen Situationen richtig zu handeln. Auch im Team können so Konflikte und Reibungen reduziert werden, was die Voraussetzung für eine produktive Zusammenarbeit ist. Die so gestärkte individuelle Selbstwirksamkeits-Überzeugung, die von allen Fachkräften in das Team eingebracht wird verstärkt so die Kollektive Wirksamkeitserwartung im Team – den nach John Hatties Forschung stärksten bekannten Faktor für den Lernerfolg und die Entwicklung der Schüler. Mit einer Effektstärke von 1,57 ist dieser Faktor fast viermal so wirksam wie der von Hattie definierte Durchschnittswert von 0,40, der bereits als Grenze für eine deutlich positive Intervention gilt.
Bandura konnte zeigen, dass die so gewonnene gemeinsame Stärke dann sogar mehr ist als nur die Summe der Einzelteile, da sie sich gegenseitig positiv beeinflussen und bestärken. Er nannte dies ein Gruppenphänomen, das durch Interaktion, Kommunikation und gemeinsame Problemlösung entsteht.
Selbsterfahrung als Fundament der pädagogischen Arbeit
Professionalisierung heißt: sich selbst kennen durch Selbsterfahrung. Dies ist keine Therapie, sondern ein geschützter Raum, um die eigenen biografischen Muster zu verstehen und den Alltag leichter, klarer und bewusster zu gestalten. Nach Prof. Dr. Rainer Prieß ist dieser Prozess eine fortlaufende Anforderung zur Aufrechterhaltung der professionellen Integrität.
Dieser Prozess unterstützt Fachkräfte dabei, eigene Stressmuster sowie unbewusste Dynamiken frühzeitig zu erkennen und zu verstehen. Dies führt unmittelbar zu:
- Mehr Klarheit und Gelassenheit: Ein bewussterer Umgang mit schwierigen Situationen und weniger impulsiven Stressreaktionen.
- Gesünderer Abgrenzung: Das rechtzeitige Wahrnehmen der eigenen Belastungsgrenzen sorgt für eine stabilere psychische Gesundheit.
- Steigerung der Beziehungsqualität: Eine bessere Präsenz in der Gruppe ermöglicht eine feinfühligere und sicherere Bindung zu den Kindern.
- Team-Synergie: Eine angenehmere und effektivere Zusammenarbeit durch die Reduktion von zwischenmenschlichen Reibungsverlusten.
- Nachhaltiger Professionalität: Gestärkte emotionale Belastbarkeit wirkt als effektive Burnout-Prävention und führt zu einem erfüllteren Arbeitsalltag.
Fazit: Die Wirkungskette der Selbsterfahrung
Kurz gesagt: Selbsterfahrung macht Beziehungen klarer. ➡ Klare Beziehungen führen zu sicheren Bindungsmustern. ➡ Sichere Bindungsmuster machen die begleiteten Kinder und Jugendlichen stark. ➡ Sichere Bindungsmuster sind der stärkste bekannte Schutzfaktor gegen die Entwicklung psychischer Erkrankungen.
Selbsterfahrung ist damit weit mehr als persönliche Entwicklung – sie ist ein Schlüssel zu guter pädagogischer Arbeit, ein Beitrag zu einem gesunden, erfüllten beruflichen Alltag, und ein nicht zu unterschätzender Beitrag zur Gesungheit unserer Kinder.